Rede zur Lage der Union 2021

„Haben es richtig gemacht!“, so Kommissionspräsidenten Ursula von der Leyen in der diesjährigen Rede zur Lage der Union. Ein fehlerfreies Jahr für die Europäische Union?!

In ihrer zweiten Rede zur Lage der Union als Präsidentin der Europäischen Kommission erklärte Ursula von der Leyen am 15.09.2021, dass die EU trotz der vielen Herausforderungen, die vor Europa und der Welt liegen, auf einem guten Weg sei, stärker zu werden, “wenn sie mehr wie unsere nächste Generation wird: umsichtig, entschlossen, fürsorglich für andere“.

Seit einigen Jahren halten die Spitzen der EU-Kommission nach der Sommerpause eine Rede im Europaparlament. Ziel der jährlichen Reden zur Lage der Union ist es, den Boden für den nächsten politischen und legislativen Zyklus zu bereiten, und zwar auf der Grundlage der Initiativen, die angekündigt, hervorgehoben, (wieder) auf den Weg gebracht, mit Mitteln ausgestattet oder unterlassen werden.

Der Kampf gegen COVID-19 und den Klimawandel werden die Hauptprioritäten der Europäischen Union im kommenden Jahr sein, kündigte von der Leyen an.

Weitere wichtige Themen, mit denen sich die 27 Länder umfassende Union auseinandersetzen müsse, seien die Migration, die Achtung der Rechtsstaatlichkeit und eine europäische Verteidigungspolitik, sagte sie.

Hier ein detaillierterer Blick auf die wichtigsten Erkenntnisse aus von der Leyens Rede mit kritischen Anmerkungen:

Covid-19, Impfstoffe – Europa im Aufschwung?

Brüssel wurde zu Beginn des Jahres wegen der im Vergleich zu den USA, dem Vereinigten Königreich und Israel langsamen Einführung von Impfungen stark kritisiert. Inzwischen sind jedoch 72 % der Erwachsenen vollständig geimpft – eine höhere Quote als in den USA.

Von der Leyen lobt die Reaktion der EU: “Entgegen aller Kritiker gehört Europa heute zur Weltspitze“. Es wurden bisher mehr als 700 Millionen Impfdosen an die Mitgliedstaaten geliefert und die gleiche Menge wurde von der EU an mehr als 130 Länder weltweit verteilt.

“Wir haben es richtig gemacht, weil wir es auf europäische Weise gemacht haben. And it worked.”

Sie warnte jedoch, dass die Pandemie noch lange nicht vorbei sei und dass jetzt nicht die Zeit für Selbstzufriedenheit sei, da weniger als 1 % der weltweiten Impfdosen in Ländern mit niedrigem Einkommen verabreicht worden seien und kündigte an, dass die EU ihre Spendenzusage bis Mitte nächsten Jahres um weitere 200 Millionen Dosen aufstocken wird.

Die EU hat sich verpflichtet, 1 Milliarde Euro auszugeben, um die Produktionskapazitäten für mRNA-Impfstoffe – zu denen auch Pfizer/BioNTech und Moderna gehören – in Afrika zu erhöhen und 250 Millionen Dosen zu verteilen.

Als weitere Priorität für die EU nannte von der Leyen die Stärkung ihrer Bereitschaft für künftige Gesundheitskrisen durch die Schaffung einer Europäischen Gesundheitsunion. Die Kommission hat vorgeschlagen, die Europäische Behörde für Bereitschaft und Reaktion auf gesundheitliche Notfälle (HERA) ins Leben zu rufen.

Sie sagte, dass die neue Aufgabe der gesundheitlichen Vorsorge und Widerstandsfähigkeit durch eine Investition von 50 Milliarden Euro bis 2027 unterstützt werden sollte.

Doch werden diese Maßnahmen ausreichen? Insbesondere um die sehr ungleiche Verteilung von Impfstoffen weltweit zu lösen? Während über 70 % aller in der EU lebenden Erwachsenen vollständig geimpft sind, warten viele Menschen in einkommensschwachen Ländern immer noch darauf, dass die Impfkampagne wirklich beginnt. Der Druck auf die EU endlich dem Vorschlag Südafrikas und Indiens in der Welthandelsorganisation (WTO) zuzustimmen wächst. Dieser forderte bereits im Oktober 2020 den Patentschutz für Impfstoffe zumindest vorübergehend auszusetzen, damit einkommensschwache Länder die Impfstoffe im eigenen Land herstellen können.

Klimawandel, Green Deal – Weckruf bei der Klimapolitik?

In Bezug auf die globale Erwärmung begrüßte von der Leyen die Verabschiedung einer rechtsverbindlichen Verpflichtung für die EU-Mitgliedsstaaten, die Netto-Treibhausgasemissionen bis 2030 um 55 % gegenüber 1990 zu reduzieren.

Sie forderte die Europaabgeordneten und die Staats- und Regierungschefs auf, den Vorschlag der Kommission für einen sozialen Klimafonds zu unterstützen, um die Energiearmut zu bekämpfen, von der derzeit rund 34 Millionen EuropäerInnen betroffen sind.

“Wenn es um den Klimawandel und die Naturkrise geht, kann Europa eine Menge tun. Und es wird andere unterstützen”, sagte sie und kündigte an, dass die EU ihre externen Mittel für die biologische Vielfalt verdoppeln werde.

Den COP26-Gipfel, der im November in Glasgow stattfinden wird, bezeichnete von der Leyen als “Moment der Wahrheit”.

Die Kommissionspräsidentin begrüßte die Ambitionen Washingtons und Tokios zur Klimaneutralität, forderte aber, dass diese “rechtzeitig vor Glasgow durch konkrete Pläne untermauert werden”. Sie forderte auch Peking auf, mehr Details über seine eigene Strategie zu liefern.

„Meine Botschaft heute ist, dass Europa bereit ist, mehr zu tun”, so von der Leyen. Zu diesem Zweck wird die EU ihre Beiträge zur Klimafinanzierung bis 2027 um 4 Milliarden Dollar erhöhen.

Auf den vergangenen COP-Gipfeln hatte sich die Welt verpflichtet, bis 2025 jährlich 100 Dollar bereitzustellen. Die EU hat bisher 25 Milliarden Dollar pro Jahr beigesteuert.

Philippe Lamberts, Ko-Vorsitzender der Grünen/EFA-Fraktion, sagte jedoch, die skizzierten Ziele gingen nicht weit genug: “Das Europäische Parlament hat ein sofortiges Ende der Subventionen für fossile Brennstoffe gefordert, aber die Europäische Kommission ergreift halbe Maßnahmen, die sich über ein Jahrzehnt erstrecken.“ Auch Grünensprecher Sven Giegold bemängelt:  „Von der Leyen redete über eine Stunde, sprach aber nur fünf Minuten über die Klimakrise“.

Darüberhinaus fehlte, wie schon im letzten Jahr, die Landwirtschaft in von der Leyens Rede: Es gab keinen Hinweis darauf, wie die Gemeinsame Agrarpolitik mit der EU-Strategie „Farm to Fork” oder der EU-Strategie für biologische Vielfalt in Einklang gebracht werden kann. Somit bleibt die Frage offen, wie ohne tiefgreifende Veränderungen in der Art und Weise, wie Europa seine Lebensmittel produziert und konsumiert, die Ziele des europäischen Green Deal erreicht werden können. Auch die Kreislaufwirtschaft, ein weiterer wichtiger Punkt auf dem Weg zu einem umweltfreundlichen, klimaneutralen und die biologische Vielfalt schützenden Europa, spielte keine Rolle. Und schließlich war die Ökologisierung der Handelspolitik kein Thema, trotz der bevorstehenden Gesetzgebung zur Sorgfaltspflicht und zu abholzungsfreien Wertschöpfungsketten.

Außenpolitik, Verteidigung, Afghanistan – Mehr Tatendrang aus eigener Kraft?

Die Ereignisse in Afghanistan, wo die Taliban nach einem Feldzug im Sommer die Macht übernommen hatte, haben die Notwendigkeit unterstrichen, dass Europa seine eigenen Verteidigungskapazitäten ausbaut, sagte von der Leyen.

Sie fügte hinzu, dass die EU und die NATO derzeit an einer gemeinsamen Erklärung zu Afghanistan arbeiten, die noch vor Ende des Jahres vorgelegt werden soll. Von der Leyen hatte Ende August bereits bekannt gegeben, dass der Beitrag aus dem EU-Haushalt für humanitäre Hilfe für AfghanInnen von rund 50 Millionen Euro auf mehr als 200 Millionen Euro aufgestockt wird. “Aber das ist nur ein Teil der Gleichung”, fuhr sie fort. “Europa kann – und sollte eindeutig – in der Lage und willens sein, mehr aus eigener Kraft zu tun.”

Sie bezeichnete es als “lebenswichtig”, dass die Mitgliedstaaten die nachrichtendienstliche Zusammenarbeit verbessern, um Bedrohungen in der eigenen Nachbarschaft und darüber hinaus zu verstehen und eine bessere gemeinsame Entscheidungsfindung zu ermöglichen.

Ein möglicher Weg für letzteres wäre der Verzicht auf die Mehrwertsteuer beim Kauf von in Europa entwickelten und produzierten Verteidigungsgütern, sagte die Kommissionschefin und betonte, dass dies den zusätzlichen Vorteil hätte, die derzeitigen Abhängigkeiten zu verringern.

In Bezug auf die Cyberverteidigung rief sie die Mitgliedstaaten dazu auf, ihre Ressourcen zu bündeln und forderte eine europäische Cyberverteidigungspolitik.

Sie kündigte außerdem an, dass die französische Ratspräsidentschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2022 einen europäischen Verteidigungsgipfel einberufen werde.

Neben der von Kommissionspräsidentin von der Leyen angekündigten humanitären Hilfe für AfghanInnen in Afghanistan und seinen Nachbarländern , stellt sich die Frage, ob die EU sich auch für die Wiederansiedlung afghanischer Flüchtlinge einsetzen und Abschiebungen nach Afghanistan aussetzen wird.

Migration, Neuer Pakt zu Migration und Asyl – Eine Frage des Vertrauens?

Zum Thema Migration führte die Kommissionspräsidentin an, dass die Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten von Gegnern und Menschenhändlern ausgenutzt würden. Sie bezog sich dabei auf Weißrussland, das von Brüssel beschuldigt wird, MigrantInnen zu ermutigen, die Grenze zu den EU-Mitgliedstaaten zu überqueren. Der von der Kommission vorgeschlagene Neue Pakt zu Migration und Asyl “gibt uns alles, was wir brauchen, um die verschiedenen Arten von Situationen, mit denen wir konfrontiert sind, zu bewältigen”, so die Kommissarin, die jedoch bedauerte, dass die Fortschritte bei der Gesetzgebung “schmerzhaft langsam” seien.

Der umfassende Text sieht unter anderem die Verwaltung der Außengrenzen, gestraffte Asylverfahren, Solidaritätsmechanismen für Suche und Rettung, Krisenvorsorge und Partnerschaften mit wichtigen Nicht-EU-Herkunfts- und Transitländern vor.

“Letztlich geht es um eine Frage des Vertrauens, des Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten. Vertrauen der Europäer, dass die Migration gesteuert werden kann. Vertrauen darauf, dass Europa seiner dauerhaften Verpflichtung gegenüber den Schwächsten und Bedürftigsten immer gerecht wird”, fügte sie hinzu.

Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass der neue Pakt keine Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems vorsieht. Bedeutet dies, dass der seit 2015 eingeschlagene Weg der Verlagerung von Zuständigkeiten an Drittstaaten, der Fokussierung auf Rückführungen, der Bezeichnung von Flucht und Migration als Management- und Sicherheitsfrage sowie der Einschränkung von Grund- und Menschenrechten für Flüchtlinge fortgesetzt wird?

Achtung der EU-Werte, Rechtsstaatlichkeit – Besorgniserregend Entwicklungen?

Von der Leyen betonte, dass die Urteile des Europäischen Gerichtshofs “verbindlich” seien, und bezog sich damit auf Polen, mit dem Brüssel über die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit gestritten hat. Die Kommissionschefin sprach von “besorgniserregenden Entwicklungen in einigen Mitgliedstaaten” in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit und warnte, dass Brüssel “entschlossen” sei, die Werte zu verteidigen, auf denen die Union aufgebaut sei, einschließlich Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Redefreiheit und unabhängige Medien.

Der Vorrang des EU-Rechts gilt als ein Grundprinzip der Union: In den Bereichen, in denen die EU zuständig ist, hat das EU-Recht Vorrang vor dem nationalen Recht.

In den letzten Jahren ist dieser Grundsatz jedoch unter Beschuss geraten. In Polen hat das Verfassungsgericht eine einstweilige Verfügung des obersten EU-Gerichts mit der Begründung zurückgewiesen, sie sei mit der polnischen Verfassung unvereinbar und daher nicht bindend. In Deutschland stellte das Bundesverfassungsgericht die Zuständigkeiten des Europäischen Gerichtshofs und der Europäischen Zentralbank in Frage. Beide Fälle haben Brüssel verärgert und zu Vertragsverletzungsverfahren geführt.

Polen hat den Unmut Brüssels auf sich gezogen, nachdem das Land sein Justizwesen reformiert hat und gegen Abtreibung vorgeht. Ungarn wurde ebenfalls scharf kritisiert, weil es Gesetze erlassen hat, die die Medien einschränken und die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen behindern sollen. Beide Länder wurden auch wegen ihrer Anti-LGBT-Gesetze gerügt.

Die Kommissionschefin kündigte an, dass die jährlichen Berichte zur Rechtsstaatlichkeit ab 2022 “spezifische Empfehlungen” an die Mitgliedstaaten enthalten werden.

Sie rief auch dazu auf, den Schutz derjenigen, die Transparenz schaffen, wie JournalistInnen, durch ein Medienfreiheitsgesetz zu stärken, das im nächsten Jahr verabschiedet werden soll.

Während von der Leyen für das Hervorheben der Rechtsstaatlichkeit gelobt wurde, wurde  kritisiert, dass sie zwar über Rechtsstaatlichkeit rede, es aber versäume, sie in die Tat umzusetzen. Ihr fehle es an politischem Mut, den Rechtsstaatlichkeitsmechanismus  tatsächlich zu nutzen, der es der Kommission ermöglicht, den Zugang zu EU-Mitteln für Mitgliedstaaten auszusetzen, zu kürzen oder zu beschränken, die gegen rechtsstaatliche Werte verstoßen haben.

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