Wie das EU-Recht durchgesetzt wird. Vertragsverletzungsverfahren und der Jahresbericht über die Kontrolle der Anwendung des EU-Rechts

Die EU-Kommission hat am 23. Juli 2021 den Jahresbericht über die Kontrolle der Anwendung des EU-Rechts angenommen. In diesem überprüft die Kommission wichtige Aspekte der Überwachung und Anwendung des EU-Rechts und stellt Fälle von Vertragsverletzungen nach Politikbereich und Land vor, sodass ersichtlich wird, wie die einzelnen Mitgliedstaaten im Jahr 2020 in verschiedenen Politikbereichen abgeschnitten haben.

HINTERGRUND

Seit 1984 erstellt die Kommission infolge einer Aufforderung des Europäischen Parlaments jährlich einen Bericht über die Kontrolle der Anwendung des EU-Rechts im Vorjahr. Dieser Bericht überprüft die Leistung der EU-Länder in zentralen Aspekten der Anwendung des EU-Rechts und gibt die wichtigsten Entwicklungen innerhalb des jeweiligen Jahres wieder. Der Bericht geht auch an das Europäische Parlament und nationale Behörden. Das Europäische Parlament nimmt dann eine Entschließung zum Kommissionsbericht an.

Die Kommission widmet sich überwiegend Aufgaben und Problemen, bei denen sie mit ihren Durchsetzungsmaßnahmen maßgebliche Veränderungen für BürgerInnen und Unternehmen herbeiführen kann. Die Europäische Kommission ist zudem das Organ der europäischen Institutionen, das für die Einleitung von Rechtsetzungsverfahren zuständig ist. Der Rat und das Europäische Parlament entscheiden über die Vorschläge der Kommission, während die einzelnen Mitgliedstaaten für die fristgerechte Umsetzung, die korrekte Anwendung und die Durchsetzung des EU-Rechts in ihrer nationalen Rechtsordnung verantwortlich sind. Sobald die Vorschläge der Kommission angenommen und zu EU-Recht wurden, tritt die Kommission als „Hüterin der Verträge“ in Erscheinung und überwacht, ob die Mitgliedstaaten dieses Recht korrekt anwenden, und ergreift Maßnahmen, wenn dies nicht der Fall ist.

Jahresbericht 2020

Der Jahresbericht 2020 befasst sich schwerpunktmäßig mit den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die Fähigkeit der Mitgliedstaaten, das EU-Recht vollständig und fristgerecht umzusetzen.

Die Kommission hat von ihren Befugnissen als „Hüterin der Verträge“ Gebrauch gemacht, um die negativen Folgen der Selbstschutzreaktionen der Mitgliedstaaten einzudämmen. Dabei handelte es sich beispielsweise um Verhängungen einseitiger Ausfuhrbeschränkungen für COVID-19 relevante Produkte (Schutzkleidung, Atemschutzmasken, Desinfektionsmittel, Corona-Schnelltests, etc.) sowie Verstöße gegen Verbraucherrechte und das Recht auf Freizügigkeit aufgrund der Auswirkungen von COVID-19-bedingten Reisebeschränkungen.

Die Kommission stellt ferner fest, dass die COVID-19-Pandemie besondere Auswirkungen auf die Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten hatte. So war insbesondere die Verwaltung der Mitgliedsstaaten im ersten Teil des Jahres einer großen Belastung ausgesetzt und in ihrer Fähigkeit, das EU-Recht vollständig und rechtzeitig umzusetzen behindert.

Die EU-Kommission setzte ihre Durchsetzungsmaßnahmen jedoch fort, sodass im Jahr 2020 insgesamt  903 neue Vertragsverletzungsverfahren (einschließlich des Vereinigten Königreichs) eingeleitet wurden, was einem Anstieg von 13 % gegenüber 2019 entspricht, als die Zahl der neuen Verfahren 797 betrug.

Mehr als die Hälfte dieser Vertragsverletzungsverfahren stand dabei im Zusammenhang mit der verspäteten Umsetzung von Richtlinien.

Portugal war für die meisten neuen Fälle verantwortlich, da es 2020 55 Bescheide aus Brüssel erhalten hat, genauso viele wie das Vereinigte Königreich (55), das jedoch nicht mehr Teil des Gemeinschaftsraums ist.

Nach Angaben aus Brüssel wurden 42 neue Vertragsverletzungsverfahren gegen Portugal eingeleitet, weil das Land die gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften zu spät in portugiesisches Recht umgesetzt hat und damit am meisten in Verzug geraten ist.

Angesichts der Warnungen der Gemeinschaftsexekutive hat Portugal einige dieser Fälle innerhalb der von Brüssel gesetzten Frist gelöst, wodurch mehrere Fälle nicht vor Gericht gelangen konnten. Ende 2020 war Portugal aus diesem Grund nicht das EU-Land mit den meisten offenen Vertragsverletzungsverfahren. Diese Position wurde zuvor von Bulgarien, Italien, Malta und Griechenland eingenommen, die im vergangenen Jahr die meisten neuen Verfahren wegen fehlerhaften Erlasses oder fehlerhafter Anwendung von EU-Recht eingeleitet hatten, während Dänemark, Finnland, Irland und die Niederlande die wenigsten Fälle zu verzeichnen hatten.

WAS IST EIN VERTRAGSVERLETZUNGSVERFAHREN?

Vertragsverletzungsverfahren sind ein wesentliches Instrument, um sicherzustellen, dass das EU-Recht eingehalten und wirksam umgesetzt wird. Die Entscheidung, ein Verfahren einzuleiten, liegt ausschließlich bei der Kommission: Sie kann auf Beschwerden von Privatpersonen reagieren, indem sie entweder eine Ermessensbefugnis ausübt, auf eine parlamentarische Anfrage hin oder auf eigene Initiative.

In seltenen Fällen ist es auch möglich, dass nicht die Kommission, sondern ein anderer EU-Staat ein Vertragsverletzungsverfahren auslöst. Dabei muss er sich jedoch zuerst an die Kommission wenden. Nur wenn diese untätig bleibt, kann der Staat direkt beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) Klage einreichen. Ein Beispiel für einen solchen Ausnahmefall war der Streit um die von der Bundesregierung geplante Pkw-Maut für Autos, die nicht in Deutschland angemeldet sind.

Österreich kritisierte die geplante Pkw-Maut von Anfang an und sah in der zu entrichteten Gebühr eine Diskriminierung. Nachdem die EU-Kommission untätig blieb, wurde Österreich aktiv und reichte Klage vor dem EuGH ein. Dieser kippte die Pkw-Maut in Deutschland mit der Begründung, dass die Maut Bürger und Unternehmen aus anderen EU-Staaten diskriminiere und so die Waren- und Dienstleistungsfreiheit einschränke, was nicht mit dem EU-Recht vereinbar sei.

Vorverfahren (Artikel 258 des AEU-Vertrags)

Wenn die Europäische Kommission der Ansicht ist, dass ein Mitgliedstaat gegen eine Verpflichtung aus dem EU-Recht verstoßen hat, kann die Kommission ein förmliches Aufforderungsschreiben an den jeweiligen Mitgliedsstaat richten und ihm eine zweimonatige Frist zur Stellungnahme einräumen. Der festgestellte Verstoß kann entweder in der Nichtumsetzung von EU-Vorschriften oder im Erlass einer nationalen Vorschrift oder einer Verwaltungspraxis liegen, die damit nicht vereinbar ist.

Wenn das Antwortschreiben die Kommission dahingehend überzeugen kann, dass kein Verstoß gegen EU-Recht vorliegt, endet das Verfahren schon an dieser Stelle.

Vertragsverletzungsverfahren können gegen einen Mitgliedstaat als solchen eingeleitet werden, unabhängig davon, ob es sich bei dem Rechtsverletzer um ein Verfassungsorgan, ein Gericht, eine Gebietskörperschaft oder eine vom Staat kontrollierte private Einrichtung handelt. Antwortet der Mitgliedstaat nicht fristgerecht auf das Aufforderungsschreiben oder übermittelt er der Kommission keine zufriedenstellenden Antworten, kann die Kommission eine mit Gründen versehene Stellungnahme abgeben, in der sie die gemeldete Zuwiderhandlung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht darlegt und den Staat auffordert, sie innerhalb einer bestimmten Frist abzustellen.

Kommt der Mitgliedstaat der mit Gründen versehenen Stellungnahme nicht nach, kann die Kommission beim Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften eine Vertragsverletzungsklage gegen den betreffenden Staat einreichen.

Damit ist die "vorprozessuale" Phase abgeschlossen und das Gerichtsverfahren eingeleitet, das darauf abzielt, ein förmliches Urteil des Gerichtshofs über die Nichterfüllung einer der von der Union auferlegten Verpflichtungen durch den Mitgliedstaat zu erwirken.

Umsetzung

Gegen Deutschland eröffnete Brüssel 2020 insgesamt 28 neue Verfahren. Bei 20 dieser neuen Verfahren handelte es sich um Verfahren aufgrund einer verspäteten Umsetzung von EU-Recht. Sieben und somit die meisten der 28 Verfahren wurden im Umweltbereich eröffnet, gefolgt von sechs Verfahren im Bereich Mobilität und Verkehr. Auch europaweit ist festzustellen, dass die meisten Verfahren im Umweltbereich eingeleitet wurden.

So kamen 2020 beispielsweise Klagen vor dem EuGH gegen Frankreich und Griechenland wegen schlechter Luftqualität hinzu. Neue Verfahren wurden zudem aufgrund von nicht eingehaltenen Trinkwasservorschriften und der nicht ordnungsgemäßen Sammlung und Behandlung von kommunalem Abwasser eröffnet.

In 16 Fällen ging die Kommission darüberhinaus gegen Mitgliedstaaten vor, die den Zugang zu Gerichten im Sinne der Umwelthaftungsrichtlinie beschränkt hatten.

Zudem wurde eine große Zahl älterer Verfahren weiter verfolgt. Dazu zählen unter anderem auch die Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland und Bulgarien wegen fehlenden Schutzes und Managements der Natura-2000-Gebiete. Gegen Kroatien, Tschechien, Litauen und Polen laufen weiterhin Verfahren wegen der mangelhaften Umsetzung und Anwendung der Energieeffizienzrichtlinie.

Einen Überblick über die laufenden Verfahren gegen Deutschland im Umweltbereich sind hier zu finden.

Zusätzlich ist anzumerken, dass Vertragsverletzungsverfahren sich oftmals über mehrere Jahre ziehen. Zeit, die im Kampf gegen die Klimakrise sehr wertvoll ist. Deshalb wird  insbesondere eine bessere Um- und Durchsetzung von umweltrelevanten Gesetzgebungen, die Kontrolle durch beispielsweise Umweltinspektionen und beschleunigte Vertragsverletzungsverfahren immer wichtiger.

Rechtsstreitigkeiten (Artikel 260 AEUV)

Stellt der Gerichtshof fest, dass ein Mitgliedstaat gegen eine Verpflichtung aus dem AEUV verstoßen hat, muss der Mitgliedsstaat die erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um dem Urteil nachzukommen und den Verstoß abzustellen.

Ein Beispiel für ein solches Urteil gab es zum Beispiel Anfang Juni 2021 gegen Deutschland. Grund dafür waren jahrelange Überschreitung von Grenzwerten für Stickstoffdioxid.

Ist die Kommission der Auffassung, dass der Staat dem Urteil des Gerichtshofs nicht nachgekommen ist, kann sie ein Ad-hoc-Verfahren nach Artikel 260 AEUV einleiten. In diesem Stadium teilt die Kommission dem Mitgliedstaat mit, dass er dem Urteil, mit dem der Verstoß gegen das EU-Recht festgestellt wurde, nicht nachgekommen ist (z. B. Änderung, Aufhebung oder Einführung einer Rechtsvorschrift, Umsetzung einer Richtlinie, Änderung der Verwaltungspraxis).

Wie bei gewöhnlichen Vertragsverletzungsverfahren besteht das Verfahren nach Artikel 260 aus einer vorprozessualen Phase und einer Prozessphase.

Mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember 2009 wurden die Rechtsvorschriften für Vertragsverletzungsverfahren grundlegend geändert. Eine der Neuerungen besteht darin, dass die Vertragsverletzungsverfahren nach Artikel 260 Absatz 2 AEUV im Vergleich zu Artikel 228 Absätze 2 und 3 EGV beschleunigt werden. Wenn nämlich ein Mitgliedstaat einem Urteil, in dem seine Vertragsverletzung gemäß Artikel 258 AEUV festgestellt wird, nicht nachkommt und keine umfassende Rechtfertigung auf das "Aufforderungsschreiben" vorlegt, kann die Kommission den Gerichtshof anrufen und die Zahlung eines Zwangsgelds verlangen, ohne eine neue "Vorverfahrensphase" einleiten zu müssen.

Geldbußen

Die verhängten finanziellen Sanktionen können aus einem Pauschalbetrag und/oder einem Zwangsgeld bestehen, das sich nach der Schwere und Dauer des festgestellten Verstoßes richtet.

Eine wichtige Änderung, die durch den Vertrag von Lissabon eingeführt wurde, betrifft die Verhängung von Geldstrafen bei Nichtumsetzung von europäischen Richtlinien. Ist ein Mitgliedstaat seiner Verpflichtung, der Kommission die Maßnahmen zur Umsetzung einer Richtlinie mitzuteilen, nicht nachgekommen, kann die Kommission im Rahmen desselben Vertragsverletzungsverfahrens den Gerichtshof ersuchen, ein Zwangsgeld zu verhängen. Nach dem neuen Verfahren gemäß Artikel 260 Absatz 3 AEUV kann die Kommission also den Gerichtshof ersuchen, die Verletzung der Verpflichtung festzustellen und den Mitgliedstaat, der seiner Verpflichtung nicht nachgekommen ist, zur Zahlung des verhängten Zwangsgelds zu verurteilen, ohne den Abschluss eines weiteren vorgerichtlichen Verfahrens abwarten zu müssen.

Je länger ein Staat einen Verstoß gegen die EU-Verträge bestehen lässt, umso kostspieliger wird es. So kommt es vor, dass wegen Datenschutz-Verstößen Pauschalzahlungen in Höhe von zweistelligen Millionenbeträgen zu zahlen sind und dies oftmals in Kombination mit einem täglichen Strafsatz von weiteren tausend Euro. Solche Strafzahlungen sind jedoch immer erst der allerletzte Schritt.

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