Justizstreit mit Polen

Der Streit mit Polen über die Unabhängigkeit der Justiz stellt die Europäische Union auf die Zerreißprobe – is „Polexit“ next?

Im Streit um den polnischen Rechtsstaat hat auch der EU-Gipfel in Brüssel keine Lösung gebracht. Bei dem Treffen der europäischen Staats- und Regierungschefs sollte eigentlich das Problem der steigenden Energiepreise im Vordergrund stehen. Doch die Entwicklungen in den vergangenen Wochen haben einen ganz anderen Konflikt in den Fokus gerückt – den mit Polen.

Obwohl Meinungsumfragen zeigen, dass 88% der Pol*innen die EU-Mitgliedschaft befürworten, ist Polens PiS-geführte Regierung in eine lange und zunehmend erbitterte Reihe von Streitigkeiten mit der EU verwickelt, die von Justizreformen über Medienfreiheit bis hin zu Frauen- und LGBT-Rechten reichen.

Die Frage der Rechtsstaatlichkeit…

Die von Polen im eigenen Land vorangetriebene Justizreform und die aus EU-Sicht damit einhergehenden Verstöße gegen das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit sorgen schon lange immer wieder für Auseinandersetzungen. Der jüngste Streit geht auf ein Urteil des polnischen Verfassungsgerichts zurück. Dieses hatte Anfang Oktober entschieden, dass einige EU-Gesetze im Widerspruch zur Verfassung des Landes stehen. Das Gericht in Warschau, dessen Legitimität nach mehreren Ernennungen von Richtern, die der regierenden nationalistischen PiS Partei nahestehen, umstritten ist, erklärte, dass einige Bestimmungen der EU-Verträge und EU-Gerichtsurteile mit Polens höchstem Recht kollidieren, und die EU-Institutionen außerhalb ihrer Kompetenzen handeln.

Konkret ging es bei dem Verfahren darum, ob Bestimmungen aus den EU-Verträgen, mit denen die EU-Kommission ihr Mitspracherecht bei Fragen der Rechtsstaatlichkeit begründet, mit der polnischen Verfassung vereinbar sind. Dies würde auch bedeuten, dass der EuGH Polen zwingen könnte, Teile der umstrittenen Justizreform der nationalkonservativen PiS-Regierung aufzuheben.

Der polnische Premierminister Mateusz Morawiecki hatte im März die Klage eingereicht und argumentiert, Brüssel habe kein Recht, sich in die Justizsysteme der EU-Mitgliedstaaten einzumischen.

Der Vorrang der europäischen vor den nationalen Gesetzen ist ein zentraler Grundsatz der europäischen Integration, und polnische Oppositionspolitiker haben wiederholt erklärt, dass eine Infragestellung dieses Grundsatzes die langfristige Zukunft Polens in der EU und auch die Stabilität der EU selbst gefährdet.

„Polexit“ = Fake News?

Angesichts der Tatsache, dass hier zwei sehr unterschiedliche rechtliche, politische und kulturelle Perspektiven auf Kollisionskurs sind könnte man sich fragen, ob ein so genannter „Polexit“ – ein Austritt Polens aus der EU – eine reale Perspektive ist.

Morawiecki hat die Idee eines „Polexit” jedoch zurückgewiesen, und als „Fake News“ bezeichnet.

Und nun?! Reaktionen und Handlungsoptionen

In einer ersten Reaktion zeigte sich die Europäische Kommission tief besorgt über das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts und erklärte, dass die Entscheidung “ernsthafte Probleme” hervorrufe, da sie die Grundlagen der Europäischen Union in Frage stelle und somit die Einheit der europäischen Rechtsordnung angreife.

 Sie bekräftigte, dass “EU-Recht Vorrang vor nationalem Recht, einschließlich verfassungsrechtlicher Bestimmungen” habe und alle Urteile des Europäischen Gerichtshofs für alle Behörden der Mitgliedstaaten, einschließlich der nationalen Gerichte, verbindlich seien.

Die Kommission fügte hinzu, dass die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für alle Behörden der Mitgliedstaaten, einschließlich der nationalen Gerichte, bindend seien, und erklärte, sie werde nicht zögern, von ihren Befugnissen gemäß den Verträgen Gebrauch zu machen, um die einheitliche Anwendung und Integrität des Unionsrechts zu gewährleisten.

Auf dem EU-Gipfel versuchte Angela Merkel zu vermitteln und betonte: „Rechtsstaatlichkeit ist ein Kern des Bestands der Europäischen Union. Auf der anderen Seite müssen wir Wege und Möglichkeiten finden, hier wieder zusammenzukommen.“ Doch der polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki ließ kein Entgegenkommen erkennen und bekräftigte, dass sein Land sich „nicht unter dem Druck einer Erpressung handeln“ würde.

Während die Mehrheit im Parlament argumentiert, dass Polen den Rechtsstaat abschafft und die EU sich von innen zerstört, wenn sie nicht mit allen Mitteln dagegen vorgeht, warnt Polen vor dem Untergang des freiheitlichen Europas, wenn die EU unter Bruch der geltenden Verträge den Nationalstaaten immer mehr Kompetenzen entzieht und so am Ausbau eines Superstaats arbeitet.

Das wirksamste Druckmittel sehen die Abgeordneten im Entzug von EU-Geldern mit Hilfe der neuen Rechtsstaatsklausel bei der Budgetkontrolle.

Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen versprach, Maßnahmen zu ergreifen, und nannte drei Möglichkeiten, wie die Europäische Kommission auf das polnische Gerichtsurteil reagieren könne.

Die Optionen, so von der Leyen, seien die rechtliche Anfechtung des Gerichtsurteils, die Einbehaltung von EU-Geldern und die Aussetzung einiger Rechte Polens als Mitgliedsstaat.

Die Europäische Kommission muss noch 57 Mrd. € (48 Mrd. £; 66 Mrd. $) der für Polen vorgesehenen Covid-19-Rettungsgelder genehmigen und wird dies möglicherweise erst tun, wenn der Streit beigelegt ist.

Die Kommission hat Warschau vorerst daran gehindert, die 36 Milliarden Euro an Zuschüssen und Darlehen in Anspruch zu nehmen, die es aus EU-Mitteln beantragt hat, um seiner Wirtschaft bei der Erholung von der COVID-19-Pandemie zu helfen.

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