„Corona-Präsidentschaft“?!

Eine Bilanz der deutschen EU-Ratspräsidentschaft

Endlich geschafft? Mit dem Jahreswechsel endete auch die deutsche EU-Ratspräsidentschaft. Auch ohne Corona war die EU in 2020 mit großen Herausforderungen konfrontiert. Die Liste der Arbeitsaufträge war lang und  die Erwartungen an Berlin groß: Die Verhandlungen für den Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) sollten abgeschlossen werden, das künftige Verhältnis zum Vereinigten Königreich musste geklärt werden und auch eine Anzahl weiterer Themen verlangten eine starke Führung durch die deutsche Präsidentschaft. So sollten Handelskonflikte mit den USA und China und außenpolitische Turbulenzen mit Russland und der Türkei beigelegt werden sowie die Umsetzung des Green Deals, der Digitalen Strategie und die Erweiterung der EU auf den Westbalkan thematisiert werden.

Covid-19 schaffte dann jedoch eine andere, dringendere Priorität: Die Bewältigung einer Jahrhundertpandemie. Ab Mitte März begannen die EU-Regierungen nationale Abschottungsmaßnahmen zu ergreifen und sogar ihre Grenzen zeitweise zu schließen. Die erhoffte Rückkehr zur Normalität ist bis heute nicht möglich. Auch die Arbeitskapazitäten der einzelnen EU-Institutionen sind aufgrund von begrenzten technischen Möglichkeiten und verpflichtender Online-Arbeit für Beratungs- und Abstimmungsprozesse in Rat und Parlament weiterhin eingeschränkt.

Daher war die Bundesregierung gezwungen, ihre Ziele für die Präsidentschaft anzupassen und ihr Arbeitsprogramm neu zu priorisieren. Die unmittelbare Krisenbewältigung und der EU-Haushalt, einschließlich des Wiederaufbauplans, wurden zur neuen obersten Priorität. Doch auch die anderen Herausforderungen verschwanden nicht einfach: Das Brexit-Folgeabkommen und das EU-Budget mussten bis Jahresende ausgehandelt werden und auch bei der Klima- und Migrationspolitik der neuen Kommission sollten zumindest die ersten Verhandlungen abgeschlossen sein.

EU-Finanzen

Zunächst erzielte Deutschland einen großen Erfolg. Bundeskanzlerin Merkel und Frankreichs Präsident Macron eröffneten nach einem Treffen erstmals den Weg für eine gemeinsame EU-Verschuldung. Beim anschließenden EU-Gipfel im Juli konnte die Bundeskanzlerin die notwendige Zustimmung der anderen EU-Länder zu einem historischen Finanzpaket von insgesamt 1,8 Billionen Euro erreichen. Dazu zählt nicht nur der mit 1074 Milliarden Euro ausgestattete mehrjährige Finanzrahmen, sondern auch der 750 Milliarden Euro schwere Corona-Hilfsfonds.

Doch der Weg dorthin gestaltete sich beschwerlich. Als erste Hürde musste eine Blockade des Europaparlaments überwunden werden, die Nachbesserungen im Bereich der Forschungsausgaben forderte und vorsah, dass die Vergabe von EU-Geldern an die Rechtsstaatlichkeit der Länder gebunden wird. Nach einer Einigung mit dem Europaparlament fehlte nur noch die Annahme durch die EU-Staats- und Regierungschefs. Ungarn und Polen wehrten sich jedoch vehement gegen den Rechtsstaatlichkeitsmechanismus. Um den Mechanismus abzuschwächen, blockierten die beiden Länder den Haushalt mehrere Wochen lang. Nach drei Wochen intensiven Verhandlungen gelang es der Bundesregierung im Dezember, einen Kompromiss auszuhandeln. Die Zusatzerklärung berücksichtigtet die Bedenken Polens und Ungarns und führte zur Beilegung der Krise. Deutschland konnte die Verhandlungen unter seiner Präsidentschaft abschließen, auch wenn der gefundene Kompromiss kontrovers diskutiert wurde. Der Etat und Corona-Fonds konnten damit in Kraft treten.

Covid-19

„Die EU hält zusammen im Kampf gegen Covid-19“ gelobten die Mitgliedsstaaten schon früh in der Corona-Krise und vereinbarten sich besser abzusprechen und enger zusammenzuarbeiten. Doch eine reibungslose Koordination konnte auch die deutsche Bundesregierung nicht garantieren. Selbst innerhalb Deutschlands war es schwierig eine Einigung zwischen Bund und den Bundesländern zu finden für einheitliche Pandemiebekämpfungsmaßnahmen. Auch auf europäischer Ebene zeigten sich insbesondere in den Sommermonaten große Uneinigkeit, wie sich beispielsweise an den verschiedenen Reiseregeln zwischen den EU-Mitgliedsstaaten zeigte.

Die EU-weite Zulassung eines Impfstoffs Ende Dezember war ein großer Erfolg, der allerdings in erster Linie der EU-Kommission und weniger dem Ministerrat gebührt. 

Hoch angerechnet würde der deutschen Ratspräsidentschaft jedoch die Aufrechterhaltung des Betriebs des Ministerrats, der sich aufgrund von mangelnder Videotechnik und Raumnot, einigen Hindernissen gegenübersah.

Brexit

Ähnlich schwierig gestalteten sich die Verhandlungen mit dem Vereinigten Königreich über das Verhältnis des Landes zur EU nach dem Brexit. Bis Heiligabend hielten die Verhandlungen mit Großbritannien alle in Atem. Das lag weniger an der deutschen Ratspräsidentschaft als an der blockierenden Haltung Londons in wichtigen Fragen wie staatlichen Beihilfen und gleichen Wettbewerbsbedingungen, dem Zugang von EU-Fischern zu britischen Gewässern und der Frage der Streitbeilegung. Während des Jahres 2020 gelang es beiden Seiten, die Verhandlungen trotz wiederholter Rücktrittsdrohungen der britischen Seite und zahlreicher abgelaufener Fristen fortzusetzen. Der mit dem Vereinigten Königreich ausgehandelte Partnerschaftsvertrag trat am 01. Januar vorläufig in Kraft und stellt die neue Grundlage für die Beziehungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich dar. Für die deutsche Ratspräsidentschaft ist es eine wichtige Leistung, dass sie bis zum Schluss die Geschlossenheit und Solidarität der EU-Staaten gegenüber London bewahrt hat.

Abkommen mit China

Während für das Abkommen mit Großbritannien in Brüssel eher die EU-Kommission die Hauptrolle innehatte, war der Ministerrat und dessen deutsche Ratspräsidentschaft ein wichtiger Antreiber bei einem anderen bedeutenden Vertrag: Dem Investitionsabkommen mit China. Die Bundesregierung hatte es zum Ziel erklärt, während der Ratspräsidentschaft endlich eine Einigung zu erreichen. Nach sieben Jahren Verhandlung vermeldeten die EU und China Ende Dezember, dass sie sich grundsätzlich auf ein Abkommen geeinigt haben, dass den Handel fairer machen und den Zugang von europäischen Firmen zum chinesischen Markt und umgekehrt regeln soll.

Außenpolitik und Konfliktlösung

Da seit der ersten Ratspräsidentschaft von Kanzlerin Merkel im Jahr 2007 das Amt des EU-Außenbeauftragten eingeführt wurde, war der Einfluss Deutschlands in der Außenpolitik während dieser Präsidentschaft geringer. Besonders hervorzuheben ist die Verabschiedung des Instruments gegen schwerste Menschenrechtsverletzungen wie Folter, Sklaverei oder systematische sexuelle Gewalt. Menschen, die für derartige Menschenrechtsverstöße verantwortlich sind, können zukünftig mit Einreisesperren bestraft werden. Ein weiterer Erfolg Berlins war die Durchsetzung eines Verfahrens, mit dem Nicht-EU-Staaten wie die USA oder Großbritannien an europäischen Verteidigungsprojekten teilnehmen dürfen. Deutschland hat zudem während der Ratspräsidentschaft das besonders in der Konfliktlösung wichtige Instrument der Mediation europäisch vorangetrieben. Die EU-Außenminister haben ein neues Mediationskonzept verabschiedet, dass dem Rat der EU erstmals erlaubt eigene Missionen zu beschließen und die Rolle der EU als starken Friedensakteur stärkt.

Klima

Zu Beginn des Vorsitzes kündigte Bundeskanzlerin Merkel an, dass auch die Klimapolitik eine Priorität der Ratspräsidentschaft sein solle. Doch angesichts der Coronakrise sind die Klimaziele im vergangenen Halbjahr oftmals in den Hintergrund gerückt. Mitte Dezember konnten sich die europäischen Staats- und Regierungschefs auf ein neues Klimaziel für das Jahr 2030 einigen: Bis dahin sollen die Emissionen im Verglich zu 1990 um mindestens 55 Prozent sinken. Vorausgegangen war der Beschluss, 30 Prozent des künftigen EU-Budgets mit grünen Themen zu verknüpfen. Dennoch kommt von vielen Seiten die Kritik, dass das Thema Klimaschutz nicht die nötige Aufmerksamkeit erhalten hätte.

Bei der künftigen EU-Agrarpolitik gelang Ministerin Julia Klöckner (CDU) ein Kompromiss, der verschiedene Reaktionen hervorrief. Während Umweltverbände klagen, die Einigung der Mitgliedstaaten führe zu einer Landwirtschaft, bei der sich die Vergabe der Fördergelder vor allem nach der Fläche richtet und nicht dem Klimaschutz dient, feiern  Klöckner und viele Bauern- und Agrarverbände das Ergebnis als großen Erfolg.

Flüchtlingspolitik

Dass das Dauer-Streitthema Flüchtlings- und Migrationspolitik eine große Herausforderung für die deutsche Ratspräsidentschaft werden würde, war von vornherein absehbar. Der Brand im Flüchtlingscamp Moria auf der griechischen Insel Lesbos erhöhte den ohnehin schon vorhanden Druck noch einmal deutlich.

Nach der Veröffentlichung der Vorschläge für die Reform des europäischen Asylsystems im September verkündete Bundesinnenminister Horst Seehofer noch vor Weihnachten eine politische Einigung erzielen zu wollen. Dieses Ziel konnte allerdings bisher nicht umgesetzt werden, da es bezüglich dieses Themas kaum eine Annäherung zwischen den  Mitgliedsstaaten gibt, sodass bis zu einer Einigung noch Jahre verstreichen könnten.

Unerledigte Aufgaben

Bundeskanzlerin Angela Merkel räumte ein, dass Vieles nicht geklappt hat. "Wir hatten uns hier etwas mehr vorgenommen. Das will ich hier ganz offen sagen", so Merkel bei einer Pressekonferenz. 

Der deutsche EU-Botschafter Clauß sieht in der Notwendigkeit zur Einstimmigkeit in vielen Bereichen ein Hindernis, das die Entscheidungswege einschränkt oder stilllegt.

Ein Beispiel dafür ist der fehlgeschlagene Versuch, sich auf einheitliche Corona-Maßnahmen zu einigen. Auch beim Problemthema Migration und Asylrecht verhindert im Wesentlichen die Blockade von Ungarn und Polen ein Voranschreiten. Die Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit Nord-Mazedonien und Albanien scheiterte am Veto Bulgariens. Die Beziehung zur Türkei konnte ebenfalls nicht verbessert werden und auch das Verhältnis zu Russland ist weiterhin beschädigt. 

Der größte Erfolg besteht am Ende des deutschen Vorsitzes vielleicht darin, dass aufkommende Vorwürfe wegen mangelnder Solidarität innerhalb der EU verklungen sind. Trotz weltweiter Pandemie konnte die EU den Zusammenhalt bewahren und sich als Einheit präsentieren.

Das bis zum Jahreswechsel fast alle großen Baustellen beseitigt werden konnten, hätten der EU zu Beginn der deutschen Ratspräsidentschaft vermutlich nur wenige zugetraut. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sprach nach dem letzten EU-Gipfel des Jahres von einem „Meilenstein für Europa und unseren Planeten“.

Übernommen wurde die Ratspräsidentschaft am 01.Januar 2021 von Portugal. Anschließend wird  Slowenien am 01. Juli 2021 Portugal ablösen.

Bis Deutschland das nächste Mal den Vorsitz der Ratspräsidentschaft inne hat, wird es noch etwas dauern: Wenn alles planmäßig verläuft, wird das erst 2034 der Fall sein.

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