Das oberste Gericht der Europäischen Union, der Europäische Gerichtshof (EuGH), hat Polen zu einer täglichen Geldstrafe von 1 Mio. EUR (1,2 Mio. USD) verurteilt, weil es eine Disziplinarkammer für Richter*innen, die nach Ansicht der EU gegen das EU-Recht verstößt, nicht abgeschafft hat. Damit ist der Konflikt zwischen Warschau und Brüssel erneut eskaliert.
EuGH-Urteil zu umstrittener Justizreform
Der EuGH erklärte am Mittwoch (27.10.2021), dass Polen gegen das Gesetz verstößt, indem es die Disziplinarkammer seines Obersten Gerichtshofs beibehält, eine Einrichtung, die als unvereinbar mit dem EU-Recht gilt.
Doch die Kammer stellt ein Herzstück der polnischen Justizreform dar: Sie ermöglicht es, Richterinnen und Richter sowie Staatsanwältinnen und Staatsanwälte zu suspendieren, ihre Gehälter zu kürzen, ihre Immunität aufzuheben und sie zu jeder Zeit zu entlassen. Aufgrund dieser Machtfülle, befürchten Kritiker*innen, dass die Disziplinarkammer dazu dient, Richter*innen für unliebsame Entscheidungen zu maßregeln.
In einem Urteil vom Juli stellte der EuGH fest, dass die Kammer nicht alle Garantien für Unparteilichkeit und Unabhängigkeit bietet und insbesondere nicht vor dem direkten oder indirekten Einfluss der polnischen Legislative und Exekutive geschützt ist. Deshalb ordnete der EuGH an, die Arbeit der Kammer einzustellen.
Die polnische Regierung zeigte sich zunächst einsichtig und kündigte im August an, die Disziplinarkammer in ihrer jetzigen Form im Rahmen einer neuen Justizreform abzuschaffen, die voraussichtlich in den kommenden Monaten eingeleitet und mit dem EU-Recht vereinbar sein wird. Doch dieses Versprechen wurde nicht eingelöst und die Arbeit der Disziplinarkammer ging weiter.
1 Millionen Euro – jeden Tag…
Die tägliche Geldstrafe in Höhe von 1 Million Euro tritt am Mittwoch in Kraft und wird jeden Tag verhängt, bis die polnische Disziplinarkammer nicht aufgelöst worden ist, so der EuGH. Begründet hat der EuGH das Zwangsgeld mit der Notwendigkeit, ernsthaften und irreparablen Schaden von den europäischen Werten, vor allem der Rechtsstaatlichkeit in der EU, abzuwenden.
Der polnische Premierminister Mateusz Morawiecki erklärte letzte Woche, er sei bereit, die Streitigkeiten mit Brüssel zu lösen, fügte aber hinzu, sein Land werde sich nicht „erpressen” lassen, was Befürchtungen über eine mögliche “Scheidung” zwischen Polen und der EU aufkommen ließ.
Aber die Konflikte zwischen Brüssel und Brüssel häufen sich…
Zu Beginn diesen Monats entschied das polnische Verfassungsgericht, dass Teile des EU-Rechts mit der polnischen Verfassung unvereinbar sind, und untergrub damit den rechtlichen Pfeiler, auf dem die Union steht. Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, warnte Polen, dass die Anfechtung der Vorherrschaft des EU-Rechts die Grundlagen der EU in Frage stelle und nicht ungestraft bleiben könne.
Das Europäische Parlament stimmte daraufhin mit großer Mehrheit für die Verurteilung des polnischen Urteils und drängte darauf, die Gelder für Polen zurückzuhalten.
Letzten Monat verhängte der EuGH eine Geldstrafe von 500.000 € (586.000 $) pro Tag für jeden Tag, an dem Polen in einem Tagebau nahe der tschechischen und deutschen Grenze weiter Kohle abbaut. Die Europäische Kommission hatte Polen im Mai nach einer Klage der Tschechischen Republik aufgefordert, den Betrieb des Braunkohletagebaus Turów einzustellen. Polen ist der Anordnung bisher nicht nachgekommen.
“Polen kann und soll keinen Zloty zahlen”
Polens Justizminister Zbigniew Ziobro lehnte es rigoros ab, das vom EuGH auferlegte Zwangsgeld zu zahlen. “Polen kann und sollte auch nicht nur einen einzigen Zloty zahlen”, sagte er in Warschau. Der polnische Staat dürfe sich nicht “der Gesetzlosigkeit unterwerfen“. Seiner Meinung nach, hat der EuGH rechtswidrig gehandelt, da die Europäischen Verträge den Richtern in Luxemburg keine Eingriffe in die Justiz der Einzelstaaten erlauben.
Und was, wenn Polen wirklich nicht zahlt?
Kann die EU es sich erlauben mit der geforderten Härte gegen Polen vorzugehen? Wie sehen die realen Machtverhältnisse aus?
Da die EU nicht über Gerichtsvollzieher*innen verfügt, die Strafgelder bei den Nationalstaaten eintreiben, bleibt Brüssel als einzige Option, die Strafgelder von den Fördergeldern abzuziehen, die Polen aus diversen EU-Töpfen bekommen soll. Doch das könnte Polen wiederum in Versuchung bringen, seine Mitgliedsbeiträge zurückzuhalten.
Zudem hat die EU ein großes Interesse an einem kooperativen Polen als Mitgliedsland. Des Weiteren hat sowohl die Europäische Kommission als auch der Europäische Rat im Gegensatz zu den Progressiven im Europäischen Parlament generell kein Interesse daran, den Konflikt mit Polen weiter eskalieren zu lassen und so zu riskieren, dass Polen womöglich sein Veto nutz um Entscheidungen der EU zu blockieren. So begrüßt die EU-Kommission das verhängte Zwangsgeld als geeignete, erforderliche und angemessene Maßnahme, um zu verhindern, dass Polen die Aufhebung der Disziplinarkammer weiter hinauszögert, ist jedoch gleichzeitig bestrebt, den Dialog mit Polen weiterzuführen.
Die wohl einfachste Lösung des Konflikts ließe sich dadurch herbeiführen, dass die PiS die nächste Wahl verliert und europafreundliche Kräfte die polnische Regierung übernehmen.
Bis dahin ist abzuwarten, ob die Auseinandersetzung möglicherweise durch einen Kompromiss beseitigt wird, um die Handlungsfähigkeit der EU nicht zu gefährdend. Ob sich beide Seiten auf einen Kompromiss einlassen und wie dieser aussieht, bleibt abzuwarten.
Früher oder später wird man über eine Neugründung der EU ohne Polen, Ungarn und andere unsichere Kantonisten nachdenken müssen. Solange diese Länder die EU als großzügige Geldgebereinrichtung wahrnehmen und nicht die geringste Gegenleistung erbringen, ihre Regeln und Gesetze torpedieren und auch offen gegen die EU hetzen, haben sie in der Gemeinschaft keinen Platz. Es ist naiv, von den PiS und Fidesz-Regierungen eine Änderung ihrer bisherigen EU-Politik zu erwarten.