Ein europäischer Wendepunkt?!
Frankreich übernahm am 1. Januar 2022 die rotierende EU-Ratspräsidentschaft mit einem ehrgeizigen Programm für ein starkes und “souveränes” Europa. Zu einer besonderen Herausforderung wird der Vorsitz des Rates des EU durch den Anstieg der COVID-19 Omicron-Variante und der französischen Präsidentschaftswahlen im April.
Um Mitternacht löste Frankreich Slowenien ab, das seit dem 1. Juli 2021 die EU-Ratspräsidentschaft innehatte, und wird in der zweiten Jahreshälfte den Vorsitz an die Tschechische Republik abgeben.
Präsident Emmanuel Macron versprach ein ehrgeiziges Programm für die sechsmonatige Amtszeit Frankreichs: “Sie können auf mein volles Engagement zählen”, sagte er in seiner Neujahrsansprache. „[Ich werde] diesen Moment, der nur einmal alle 13 Jahre eintritt, zu einer Zeit des Fortschritts für Sie zu machen. Eine Zeit des Fortschritts für die Kontrolle unserer Grenzen, unsere Verteidigung, den Klimawandel, die Gleichstellung von Frauen und Männern, den Aufbau einer neuen Allianz mit dem afrikanischen Kontinent, die bessere Betreuung der großen Internetplattformen und die Kultur in Europa.”
Was steht auf Frankreichs Agenda?
Sechs Monate lang wird Frankreich einen beträchtlichen Einfluss haben, um bestimmte Themen voranzutreiben und Kompromisse für die 27 Mitgliedstaaten zu finden – eine Aufgabe, deren Ausführung genauestens beobachtet wird und welche ein hohes Maß an Neutralität und Taktgefühl erfordert.
Macron hat die Messlatte sehr hoch gelegt: “2022 muss das Jahr der europäischen Wende sein“, kündigte er an.
Die französische EU-Ratspräsidentschaft (FPEU) hat drei Schwerpunkte gesetzt:
- die Einführung von Mindestlöhnen in der gesamten EU
- die Regulierung der digitalen Giganten
- die Einführung einer Kohlenstoffsteuer auf Produkte, die nach Europa importiert werden, entsprechend ihrer Umweltauswirkungen
Macron spricht sich auch für eine Reform des Schengen-Raums aus, um die Grenzen Europas angesichts der Migrationskrise besser zu schützen. Dabei handelt es sich um ein Thema, das auch im Mittelpunkt des französischen Präsidentschaftswahlkampfs stehen wird.
Der französische Präsident plant zudem eine Überarbeitung der Haushaltsregeln, der berühmten Maastricht-Kriterien, die die europäischen Defizite regeln, um mehr europäische Investitionen und Wachstum finanzieren zu können.
Ein weiteres Ziel ist die Vorantreiben der europäischen Verteidigung weiter – trotz des Widerwillens einiger Partner, die vor allem auf den Schutz der NATO bedacht sind.
Das sind Ambitionen, die Macron seit seiner Wahl 2017 immer wieder geäußert hat, allerdings nicht ohne bei einigen seiner Partner, insbesondere in Osteuropa, Spannungen hervorzurufen.
Was sagt Berlin zu Frankreichs EU-Ratspräsidentschaft?
Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock äußerte, das Deutschland und Frankreich dazu verpflichtet seien, die EU zu stärken und sie zu einer noch größeren Weltmacht zu machen, wenn Frankreich die EU-Ratspräsidentschaft übernehmen.
Auch die deutsche Regierungskoalition sieht in Macrons Vision einer „strategischen Autonomie” in Europa ihre Berechtigung.
Berlin und Paris sind sich einig, dass der Wettbewerb der Großmächte, insbesondere zwischen den Vereinigten Staaten auf der einen und China und Russland auf der anderen Seite, das Potenzial hat, die EU negativ zu beeinflussen.
Was bedeutet die EU-Ratspräsidentschaft für Macron und Frankreich?
Die Ratspräsidentschaft fällt mit den französischen Präsidentschaftswahlen zusammen, die für den 10. und 24. April angesetzt sind und gibt dem Amtsinhaber die Möglichkeit, die Prioritäten auf der europäischen Agenda zu beeinflussen.
Die französische EU-Ratspräsidentschaft kommt für Macron somit zu einem günstigen Zeitpunkt, denn sie bietet ihm die Möglichkeit, Frankreich als europäische Macht zu präsentieren. Dies steht im Einklang mit anderen Zielen und Botschaften, die er den Wählern im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen in Frankreich vermitteln möchte.
Die Opposition kritisiert eine Instrumentalisierung der “PFUE” durch Macron, der im April vor einer Wahlherausforderung steht. Denn obwohl er noch nicht bestätigt hat, ob er erneut kandidieren wird, wird erwartet, dass Macron im Februar offiziell seine Wiederwahl ankündigen wird.
Komplikationen und Kontroversen
Als Symbol für die Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft wurden der Eiffelturm und der Elysée-Palast gleichzeitig in blau, der Farbe Europas, beleuchtet.
Das Hissen der EU-Flagge am Pariser Arc de Triomphe sorgte jedoch für eine Kontroverse. Der Vorwurf von Präsidentschaftskandidaten aus dem rechten und dem linken Lager: Beleidigung des Vaterlandes. Die rechtsextremen Präsidentschaftskandidaten Marine Le Pen und Eric Zemmour erklärten, sie seien empört, dass die französische Flagge durch die EU-Flagge am Grab des Unbekannten Soldaten, das an die Gefallenen erinnert, ersetzt wurde und sprachen von einer Provokation gegenüber denjenigen, die für Frankreich im Krieg gekämpft haben.
Etwas mehr als drei Monate vor der Präsidentenwahl zeigt diese Kontroverse sehr deutlich, wer eine positive Einstellung zur EU hat und wer nicht.
Die anstehenden Präsidentschaftswahlen werden die französische EU-Ratspräsidentschaft folglich stark beeinträchtigen, sodass abzuwarten bleibt, wie viel Zeit tatsächlich zur Verfügung steht, um die angekündigten Maßnahmen umzusetzen.
Auch der Anstieg der Omicron-Variante wird die Tagesordnung durcheinander bringen, zumindest im Januar, wenn viele Sitzungen aus der Ferne stattfinden müssen.